ZEITLOS

Zeitlos - Antisemitismus und Erinnerungskultur | Hagen, 2019 - 2020

 

"Zeitlos“ ist ein multimediales Musiktheaterstück zum Thema Antisemitismus und Erinnerungskultur.

Das Thema Antisemitimus: Für viele junge Menschen bedeutet das nicht mehr als ein paar Zeilen im Geschichtsbuch. Weit weg und nicht von Bedeutung.  Doch wie fühlt es sich an, systematisch verfolgt und bedroht zu werden, was sind Motive von Tätern und Opfern und welche politische Wirkmechanismen liegen dem Antisemitismus zugrunde?
Mit dem Projekt ZEITLOS in Trägerschaft von East West East Germany e.V. öffnet PROJECTICA Jugendlichen mit unterschiedlichem sozialen und schulischen „Background“ auf kreativ-künstlerischem Weg einen emotionalen Zugang zur jüngeren deutschen Geschichte mit dem damit verbundenen Thema Verfolgung, Gewalt und Vertreibung im Dritten Reich.  So wird spürbar, was dies mit ihnen und ihrem Leben zu tun hat.
In ersten Schritt haben sich 35 junge Menschen aus Hagen und Umgebung Fortbildungen im Jugendkulturzentrum Kultopia und in der Jüdischen Gemeinde zunächst im Rahmen eines Sensibilisierungstrainings mit verschiedenen Diskriminierungsformen auseinandergesetzt. Vom Gegenwartsbezug und eigenen Erfahrungen mit Entwertung konnte nun zum Thema Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung der Juden im Dritten Reich übergeleitet werden.
Im nächsten Schritt setzte sich die Gruppe zunächst mit der Reichpogromnacht, mit Opfern und Tätern*innen und ihren Motiven auseinander.  Nun thematisierte das Team gemeinsam mit Hagay Feldheim die Konzentrations- und Vernichtungslager im Dritten Reich mit Verantwortlichkeiten und den Netzwerken vieler Beteiligter. Im weiteren Verlauf lernten die Teilnehmenden auch Spuren jüdischen Lebens  vor dem Holocaust kennen: Wo Geschäfte und Fabriken waren, was mit diesen geschah. Hagay Feldheim berichtete von den Abtransporten aus Hagen und zeigte Orte, in denen Juden aus Hagen lebten und wirkten. So wurde sichtbar, dass das Verbrechen nicht weit entfernt, sondern direkt vor der Haustür der Jugendlichen stattgefunden hatte.
In vertiefenden wöchentlichen Workshops und bei Wochenendveranstaltungen entwickelten die Jugendlichen eigene Theaterszenen, schrieben Songs, die im Verlauf zu einem Musiktheaterstück verwoben werden. Dort erzählen sie eine Familiengeschichte, die überall in Deutschland hätte stattfinden können: Sie gewähren dem Publikum auf berührende Weise einen Einblick in den Schrecken der Verfolgung und der Vernichtung von Juden im Dritten Reich und zeigen das Leid der Hinterbliebenen. Gleichzeitig spannen sie einen Bogen in die heutige Zeit und zeigen, wie stark  antisemitische Haltungen nach wie vor in unserer Gesellschaft präsent sind. Und sie entwickeln ein Bewusstsein dafür, dass die gesamte Gesellschaft die Verantwortung trägt, dass Unrecht, Verfolgung und Vertreibung sich niemals wiederholen.

Beispiele aus der Aufführung:
In einer Theaterszene  setzten sich die Teilnehmenden mit der Ausgrenzung von Juden im Alltag, hier im Rahmen eines Geschäftsbesuchs, auseinander. Frau Rosenthal hat einen kleinen Laden, im dem drei Nachbarinnen, die sie von klein auf kennt, Seife einkaufen wollen, wie eigentlich immer. Der Einkauf wird durch drei brutale Nazischergen unterbrochen, die die Kunden bedrohen und anbrüllen: Ob sie das Schild “Kauft nicht bei Juden“ nicht gesehen hätten, und vertreiben sie aus dem Laden. Anschließend bedrohen sie Frau Rosenthal, deren Ehemann im 1. Weltkrieg für Deutschland gefallen ist, mit zynischen Worten. „Da hat er uns viel Arbeit erspart“ und „wir sind noch lange nicht fertig mit Ihnen“.
Das Thema Erziehung, Rassenlehre und Ausgrenzung jüdischer Schulkinder zeigten die Teilnehmenden am Beispiel des (fiktiven) Lehrers Neumann. Dieser weigert sich zunächst, im Unterricht die neuen Schulbücher zu verwenden, die die Evolutionstheorie von Charles Darwin auf die nationalsozialistische „Rassenlehre“ überträgt. Neumann wird daraufhin vom linientreuen Direktor, einem Nazi, niedergebrüllt, der Schulleiter entfernt Neumann von der Schule („Sie werden nie wieder unterrichten“).  Die Kinder erhalten die neuen Schulbücher und zwei jüdische Kinder werden von der neuen, ebenfalls linientreuen Lehrerin aus dem Unterricht geworfen; dies erklärt sie mit der „höherwertigen Herrenrasse“ bei den verbliebenen, eingeschüchterten Schüler*innen. Die Szene zeigte am Beispiel der Figur des eher zurückhaltenden Lehrers Neumann, einem Mann, der weder besonders mutig noch tapfer ist, dass es auch im Dritten Reich möglich war, Haltung zu zeigen und nicht mit zu machen. Auch wenn die Brutalität des Regimes Widerstand mit dem Tod bestrafte. Im unmenschlichen System bewahrt sich Lehrer Neumann seine Menschlichkeit.
Ein berührender Song greift einen inneren Konflikt eines Kindes von einem der SS-Männer auf, der die Reichspogromnacht in Hagen plant. Eine Teilnehmerin spielt ein Kind des SS-Obergruppenführers Böhm. Dieses Kind sieht, dass Unrecht geschieht und ihr Vater sich beteiligt, dass sie aber zugleich als Kind ohnmächtig ist und sich nicht gegen ihn durchsetzen kann.
Ein weiterer Song gewährt einen Blick in Kinderseelen in der Zeit des Holocaust. Die Mädchen, deren Eltern Schulze die jüdischen Freunde verstecken und die Kinder der jüdischen Freunde sitzen für einen Moment zusammen und singen von einem kurzzeitigen, letztlich trügerischen Gefühl der Sicherheit im gemeinsamen Versteck…
Die Jugendlichen haben über die Verknüpfung von inhaltlichen Workshops, die das Zeitgeschehen vermittelten, mit dem Hineinversetzen in verschiedene Rollen die grausamen Folgen des Antisemitismus auf intellektuelle wie auch emotional tiefgehende Weise nachvollziehen können. Der Wechsel von Täter- und Opferrolle, die Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen und der offene Austausch in „geschützten Räumen“ trugen maßgeblich dazu bei. Wie häufig in der Arbeit von Projectica hat sich eine sehr heterogene Gruppe mit dem komplexen Thema auseinander gesetzt, darunter Jugendliche aus Rumänien, aus dem Iran, aus Afghanistan uns Syrien, Marokko, Italien und Deutschland.
Die Aufführungen im Dezember 2019 und im Januar 2020 im Kultopia zeigten eindringlich: Alle müssen gegen die Ausgrenzung von Juden und gegen Rassismus aufstehen und sich engagieren.
 

Interview mit Radio Hagen: https://kurzelinks.de/4l8q

 

Kooperationspartner:

 

Jüdische Gemeinde in Hagen (Hagay Feldheim),  das Kommunale Integrationszentrum (KI), das Jugendkulturzentrum Kultopia und das Music Office Hagen.

 

Gefördert durch Chancen NRW - Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen

 

Projektträger: EAST WEST EAST GERMANY E.V.